Gedanken zur Toleranz
Toleranz besteht nicht darin, dass man die Ansicht eines anderen teilt, sondern darin, dass man dem anderen das Recht einräumt, überhaupt anderer Ansicht zu sein. Viktor Frankl
In den freimaurerischen Medien und Vorträgen wird immer wieder über die „Aktualität“ unserer freimaurerischen Arbeit diskutiert und spekuliert. Ein Blick um uns herum genügt aber nach meiner Auffassung, um die Frage nach der Notwendigkeit der Arbeit am Rauhen Stein klar zu beantworten. Denken wir allein an das aus freimaurerischer Sicht zentral wichtige Prinzip der Toleranz: Wie oft ist in unserer heutigen modernen – oder auch „postmodernen“ – Gesellschaft die oben formulierte Maxime Viktor Frankls zwar rechtlich-formal, nicht aber materiell im tatsächlichen Umgang erfüllt?
Mit der „Modernität“ unserer Gesellschaft ist das ja auch so eine Sache: Einerseits ist die Globalisierung in aller Munde, andererseits ist es eine schwierige Diskussion, wie weit wir für Ereignisse in der Verantwortung oder moralischen Pflicht stehen, die sich außerhalb der Grenzen der EU ereignen. Ereignisse von rassistischen Anfeindungen und manche Diskussionen über Corona-Schutzmaßnahmen lassen manchmal Zweifel daran aufkommen, inwieweit unsere gesellschaftliche Entwicklung – in Deutschland oder anderswo – wirklich von Erkenntnis und Fortschritt geleitet ist; dies gilt gerade auch Bilck auf das Maß an tatsächlich vorhandener Toleranz in den „modernen“ Gemeinwesen unserer Zeit. Natürlich dürfen und wollen wir niemanden auf der Welt (oder um uns herum) bevormunden oder gar kulturell kolonialisieren. Aber beim Blick in die außereuropäische Nachbarschaft geht es in diesen Tagen um den menschlichen common sense, der die Weltreligionen in ihrem ursprünglichen Geiste verbindet. Das Mittelalter scheint uns wohl näher zu sein, als wir wahrhaben wollen. Leider ist daher heute ein anderes Zitat aktueller denn je, das in der Blüte der Aufklärung entstanden ist: „Der Verfolgungsgeist ist ein wahrer Tyrann, welcher die Länder entvölkert. Die Toleranz ist eine zärtliche Mutter, welche sie blühend macht!“ So Friedrich II.
Dabei brauchen wir nicht in andere Weltregionen schauen, um die Wirkungen von Toleranz und Intoleranz zu sehen: In Zeiten des Fachkräftemangels wird der Organisationspsychologe die Worte von Friedrich II in moderner Formulierung gerne jedem Unternehmen ins Stammbuch schreiben, auch wenn wirtschaftliche Zwänge der Toleranz Grenzen setzen.
Ich denke, den eigentlichen Wirkungszusammenhang zwischen tatsächlich gelebter Toleranz und der Qualität eines Gemeinwesens hat Albert Schweitzer schön auf den Punkt gebracht: „Echte Toleranz ist nicht möglich ohne Liebe.“
Toleranz ist demnach nur dort „echt“, wo sie nicht nur Sozialtechnologie, also kalkulierte Methode ist, sondern vielmehr Wirkung menschlicher Tiefe – unsere Mitmenschen spüren wie wir es wirklich meinen. Wir können also Toleranz nicht wie ein Rezept verordnen, sondern nur in uns und auf diesem Wege in unserem Nächsten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Toleranz als eine fruchtbringende Pflanze gedeihen möge. So schließt sich der Kreis zur Aktualität unserer Arbeit am Rauhen Stein in Bezug auf freimaurerische und christliche Wertgrundlagen.
Interessanter Link: Aufnahmegesuch von Johann Wolfgang von Goethe